CHEN RUO BING

Von dialogischer Form

Tayfun Belgin

Die Malerei Chen Ruo Bing hat sich gewandelt. In den älteren Bilder (1997-2000) waren noch Bildformen wahrnehmbar, die von Ferne an landschaftliche Elemente wie Berge, Bäume oder gar an Figuren erinnerten. Besonders in den feinfühligen Tuschezeichnungen begegneten uns Ensembles von abstrahierten Figuren, denen eine gewisse Kommunikative Struktur zu eigen war. Chen Ruf Bings Malerei war keine, in der Farbe wesenhaft das Bild dominierte. Eher gilt es von Formen im Bild zu sprechen, die einem Erinnerungspotential entstammten und als Repertoire zur Verfügung standen. Falls man einen fernöstlichen Aspekt in den frühen Werken Chen Ruf Bings suchen wollte, so würde man am ehesten hier fündig werden.

Über Farbe in Malerei zu sprechen ist immer eine Herausforderung für denjenigen, der spricht und demjenigen, der zuhört bzw. liest. Farben im Bild entstehen durch das Auftragen von Pigmenten, sind also etwas stoffliches. Allerdings ist ihre Wirkung auf uns nicht objektiv, sondern in einem hohen Maß subjektiv. Und hieraus ergibt sich eine der wohl – im paradoxen Sinne – vollkommensten Wahrnehmungsebenen: die der Macht der Farbe. Ihre Wirkung ist es, die existentiell ist für den Menschen und seine Wahrnehmung. Farbe wirkt in den tieferen emotionalen Strukturen des Menschen und ist daher auch immer Stimulans. Gesprochen werden kann über sie durch Beschreibung und Umschreibung. Der Rest ist allein für die Sinne bestimmt.

In Chen Ruo Bings Bildkunst ist die Farbe seit einigen Jahren gänzlich losgelöst von Assoziationen; ein Bezug zur außerbildlichen Realität ist überwunden. Die Bewegungsimpulse, ausgelöst durch Formen, die ehedem solches suggerierten, sind einer komplexeren Ordnung im Bild gewichen. Diese Ordnung erlaubt es uns, jenseits des Ausströmens der Farbwirkung auf den Grund des Bildes zu gehen.

Es ist offensichtlich dass der Maler heute Formen bevorzugt, die einer geometrischen Sprache entsprechen, obwohl sie als pures Element nicht auftreten. Der Bildgrund, der durch Lasuren entsteht, liefert in aller Regel eine einfarbige Plattform, auf der das Bildgeschehen sich entwickeln kann. Chens heutige Bilder sind am treffendsten zu charakterisieren als Farb-Form-Setzungen. Die Formen sind Bildteile, gewissermaßen „Motivformen“, die zueinander in einer bestimmten Beziehung stehen. Jedes Bild lässt eine neue Beziehung offenbar werden. Jedes Bild ist – ganz im Sinne von Theo van Doesburg – ein neuer Farbgedanke. Für den Schaffensprozess bedeutet dies, dass der Maler von vornherein zielbewusst arbeitet. Er weiß um die Anlage des Bildes. Inwiefern die Erfahrung der Farbwirkung schon im Konzept einholbar ist, lässt sich vermutlich nicht von vornherein bestimmen.

Chens Farb-Formen entwickeln ihre Bildwirkung durch den Bezug der Teile zum Ganzen. Jede Form ist mit Bezug zur anderen und gleichzeitig zum Ganzen gesetzt. Wäre dem nicht so, würde ein bewusster gesetzter Zufall eine Rolle spielen, so kippte das Bild, es wäre als konzipiertes Werk gescheitert. Der Bezug der Teile zum Ganzen entspricht somit einer wohlüberlebten Strategie. Die Entscheidung für genau diese Bildstruktur und keine andere, ist unumkehrbar.

So realisiert Chen Ruo Bing  Bilder, die von ihrem Wesen, von ihrer Entität ganz dem europäischen Denken entsprechen. Die berühmte Formel „Bildleib“ des Kunsthistoriker Theodor Hetzers, der hiermit die Einheit des Beziehungsgeflechtes zwischen den dargestellten Motiven und dem Bildrand meinte, trifft bei Chen zu.

Bildgegenstände, innere Struktur, Rand, Bildeinheit – alle das sind Kategorien, die das abendländische Bild charakterisieren. In Abgrenzung zu dieser Tradition einer „relationalen“ Malerei, haben amerikanische Künstler die Formel „nonrelational“ bevorzugt, die besagt, dass das Bild nicht mehr von heterogenen Elementen, die sich gegenseitig bedingen lebt, sondern von homogenen. Bei symmetrisch angelegten Bildern oder Bildobjekten, wie in den frühen Werken Frank Stellas wird dieser Anspruch offenbar. Spannungszustände und energetische Vorgänge bestimmen die relationale Malerei von Che Ruo Bings. Die Bildformen unterliegen nicht nur einer festgesetzten Ordnung, sie dialogisieren miteinander. Der Dialog besteht in dem Sich-Zueinander-Verhalten. Er ist, wie bei allen Werken der konkreten Kunst, eigentlich nichtsprachlich – im Vergleich zum erzählenden figürlichen Bild.

Farbe, dies weiß Chen sehr wohl, ist kein beliebiges Medium. Die Farbmalerei entsteht aufgrund eines konkreten Erfahrungspotentials. Wer Farbe im Bild so souverän zu setzen vermag, besitzt eine nicht zu unterschätzende Sensibilität an Weltwahrnehmung. Es ist dem Betrachter selbst überlassen, ob und wie weit er den Weg der Farbe und ihrer Ordnung mitgehen bzw. inwieweit er hiervon profitieren mag. 

Bewusstseinserweiterung war ein Stichwort der 70er Jahre. Gemeint war die Öffnung des Bewusstseins für Zustände jenseits der alltäglichen Erfahrung. Eine Kunst, die sich in aller Souveränität ganz der Farbe widmet, ist ein vorzügliches Medium für Erweiterungen des Bewusstseins und der Seele. Hier wiederum trifft der fernöstliche auf den westlichen Kreis. In diesem Spannungsfeld entsteht die Malerei Chen Ruo Bings. 


Krems, November 2003