CHEN RUO BING

„ART IS ART.“

Gedanken zum Werk von Chen Ruo Bing

Hans Günter Golinski

Die Bilder eines Künstlers zu lesen, der in zwei Kulturen beheimatet ist deren Ästhetikvorstellungen in seiner Kunst verschmelzen,  stellt den Leser vor eine hoch interessante und zugleich schwierige Aufgabe. Schaut man die Bilder Chen Ruo Bings, eröffnen sie  eine unbekannte und zugleich vertraute Freiheit. Im Folgenden soll versucht werden, in seiner Malerei zu lesen, um über sie zu wissen und sie zu schauen, um sie zu leben – die Grenzen zwischen diesen Annäherungsversuchen sollen bewusst fließend bleiben. Der Autor erlaubt sich, zu observieren, zu referieren, zu assoziieren und zu imaginieren. 

1970 in ein Künstlerhaus hineingeboren, wurde Chen Ruo Bing schon mit jungen Jahren auf einen Lehrpfad geführt, der ihm mit stetig wachsenden Anforderungen überlieferte Schriften und Bildtraditionen der chinesischen Kultur vermittelten sollte. Konsequent erobert sich der Heranwachsende literarische und philosophische Vorstellungen und deren Bilder, aus denen sich sein Wille entwickelte, einen eigenen Weg als Künstler zu finden. Im Alter von 10 Jahren versucht er sich in der aus der Tang Dynastie (618 – 907) überlieferten Lüshi-Dichtkunst (übersetzt: „regelmäßiger Achtzeiler“), eine von Realismus und Romantik geprägte Lyrik im strengen Versmaß – eine Schulung für Beobachtungsgabe, Gefühl und Disziplin, die seine Kunst bis heute spüren lässt. Mit seiner damaligen und nie vollständig aufgegeben Leidenschaft für Literatur wurde fünf Jahre später ein Sommer, in dem er sich tagelang  in einer Buchhandlung vergraben kann, um Bücher der chinesischen Klassiker über Philosophie, Literatur und Ästhetik zu lesen, zum unvergesslichen Erlebnis. Dort stößt er auch auf westliche Schriften. Mit jugendlicher Begeisterung und großem Fleiß eignet er sich Erkenntnisse und Deutungen der sichtbaren und unsichtbaren Welt an, um sie in Form von Kalligraphie und vor allem von Tuschmalerei künstlerisch umzusetzen. Von 1988 bis 1991 studiert er chinesische Malerei an der Zhejiang Academy of Art, Hangzhou. 

Obwohl die Studierenden dort vorrangig chinesischen Traditionen erlernen, trainieren und verinnerlichen, suchen sie auch nach neuen Ausdrucksformen. Mit Schwerpunkt auf der Kunst der Landschaftsmalerei interessieren Chen Ruo Bing die Kategorien Raum und Zeit, insbesondere die statische Zeit in der chinesischen Kunst und – schon damals – die dynamischen Zeit in der westlichen Kunst. In diesem Zusammenhang experimentiert er mit abstrakter Ölmalerei, bleibt letztlich aber bei der Tuschmalerei. Mit 22 Jahren erkennt er, mit chinesischen Weisheiten und asiatischer Ästhetik so vertraut zu sein, dass das Erreichte für ihn ein Zwischenziel darstellt, so dass er sich auf den Weg nach Westen macht – seinem Beispiel werden später viele folgen.

Umgekehrt wurde vom „Westen“ der Blick immer wieder nach Asien gerichtet und die westliche Kultur- und Kunstgeschichte weist viele Beispiele des daraus resultierenden Einflusses von asiatischer und eben auch chinesischer Kultur auf. Genannt seien die Chinoiserien des Barock oder der Japonismus des 19. Jahrhunderts und dessen Wirkung auf den Impressionismus. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts  setzt ein neues Interesse innerhalb der Moderne für die Kultur Asiens ein;  so wird für Wassily Kandinsky  die asiatische Tuschmalerei mit ihrem hohen Abstraktionsgrad zur entscheidenden Inspirationsquelle bei seinem Bemühen, die Malerei vom Zwang des Abbildens zu befreien. Vereinzelt schon vor dem 2. Weltkrieg und mit Macht dann nach 1945 suchen westliche Künstler in der asiatischen Ästhetik und ihrem Traditionsbewusstsein Halt und Innovation für die eigene Kunst.  Diese Begegnungen zwischen Ost und West erweisen sich für die westliche Kunstentwicklung als fruchtbar, sehr häufig beschränkt sie sich aber auf formale Übernahmen und Imitationen, ohne das ursächlich dahinterstehende Weltbild und seine Philosophie zu begreifen. Immer wieder war und ist es die Faszination des Exotischen, die aus der als eng empfundenen eigenen Situation das Fremde zur Projektion einer erstrebenswerten, vermeintlich besseren Welt werden lässt. 

Die „abendländische“ Kunst- und Geistesgeschichte durchlief Phasen religiöser und ideologischer Bilderverehrung und –zerstörung,  und schwankte immer wieder neu und anders zwischen barocker Farb- und Formenlust  und sinnlicher Askese. 

Der westlich sozialisierte und kulturalisierte Betrachter meint – bisweilen ebenso überheblich wie erfrischend unvoreingenommen – mit der Erfahrung der abstrakten Kunst, die Reduktion asiatischer Tuschmalerei  zu erfassen. Doch lauert stets die Gefahr, die vermeintliche Farblosigkeit als monoton zu empfinden. Man sieht keine Möglichkeit zur sinnlichen Wahrnehmung von Farbe oder progressiven Farbtheorien. In der ihren Traditionen verpflichteten Malerei wird Vielfalt und zugleich Eindeutigkeit, Realitätsnähe und emotionale Betroffenheit vermisst. Der überlieferten und kanonisierten Formsprache traut man weder Entwicklung noch Aktualität zu. 

Vor dem Hintergrund dieser Vorurteile und Missverständnisse stellt sich die Studierfreude des jungen Chen Ruo Bing, die bis heute ungebrochen ist, in einem anderen Licht dar. Seine Malerei behält Prinzipien chinesischer Tradition bei und bringt sie in einen Dialog mit westlicher Philosophie und Gegenwartskunst. Mit seiner philosophischen Haltung und seinem künstlerischen Selbstverständnis geht es ihm in seiner Kunst um eine kulturübergreifende, ja kulturunabhängige Erfahrung von Geistigkeit. Ohne sich seiner gesellschaftlichen Verantwortung als Künstler zu entziehen, sind die Themen seiner Bilder nicht an konkreten Tagesereignisse oder aktuell politischen Entwicklungen interessiert, sondern an Ursächlichkeiten und Möglichkeiten menschlichen Seins. Es geht ihm um eine religionsunabhängige, möglichst universale Spiritualität, wie er schreibt: „Abstrakte Künstler übernehmen mit ihren kreativen Prozessen soziale Verantwortung, da ihre Arbeiten direkt oder indirekt das Geistesleben ihres Publikums beeinflussen. Achtsames Denken ist gefordert.“ 

Vielleicht steht dahinter die Utopie, dass jede Kunstbetrachtung eine gemeinsame oder verbindende geistige Erfahrung auslöst, die Spuren im weiteren Handeln hinterlässt. Konsequenter Weise legt dieser inhaltliche Ansatz eine abstrakte Formensprache nahe, die Chen Ruo Bing aus östlichen und westlichen Ästhetiktheorien für sich entwickelt. Im Folgenden sollen einige Fragmente östlicher Gedanken referiert werden, die beim Betrachten seiner Bilder assoziiert werden könnten.

Der chinesischen Geistesgeschichte folgend, beschäftigt sich Chen Ruo Bing mit den „drei Lehren“, die China maßgeblich bestimmten, dem Konfuzianismus, dem Taoismus sowie dem Buddhismus. So finden sich in überlieferten und wohl auch vom Künstler studierten Schriften etwa des taoistischen Priesters und Gelehrten Lu Hsiu-ching (406 – 477) kosmologische Szenarien, die einen bewussten Umgang mit Farbe belegen. Da lässt der „Himmelwürdige des Uranfangs“, Yüan-shi t’ein-tsun seinen Atem in den Farben Grün, Gelb und Rot aus seinem Mund heraustreten.  Diese Energien verbreiten sogleich ein durchdringendes Leuchten, und in ihnen werden die so genannten  „purpurnen Schriftzeichen“ des  „goldenen Buches“, die „Zinnobertraktate der Jadeschriftzeichen“ strahlend deutlich. Innerhalb dieser drei farbigen Energien lassen sich zugleich auch die „vierundzwanzig Vollkommenen der leuchtenden Sphären“ sehen, wie sie mit einem Heer im leeren Raum schwebend erscheinen und die magischen Schriftzeichen schützend umringen. Hier werden spirituelle Lehren und philosophische Erkenntnis in einer metaphorischen Sprache kommuniziert, die bildhaft argumentiert und Farbwirkungen provoziert. Farbe wird in all ihren Nuancen und Wirkungsweisen in der Natur erfahren und im jeweils geistigen Weltbild und kultischen Leben entsprechend abstrahiert. Der Taoist, dem es darum geht, das spirituelle Potenzial des Kosmos gleichermaßen für Individuum und Gesellschaft nutzbar zu machen, vermag Strukturen des Kosmos abzubilden und geistige Kräfte zu visualisieren. Lässt sich Chen Ruo Bing etwa als ein taoistischer Maler“ bezeichnen?

Wenngleich Farbe Göttlichkeit symbolisieren kann, wird sie auch mit Sinnesbegierden in Verbindung gebracht, die von zu erstrebenden Erkenntnisprozessen ablenken und die Konzentration auf das „Höchste Eine“ stören: Wenn die Augen Farben sehen, die Ohren Laute hören, der Mund schmeckt und die innere Natur nach Gefühlen strebt, zerstreut sich der Lebensodem (Qi). 

Laotse (6oo v. Chr.) provoziert den Geist und sensibilisiert die Wahrnehmung mit Lehrsprüchen: 

„Schau! – doch es ist nichts zu sehen – sein Name lautet Unsichtbar
Horch!  – doch es ist nichts zu hören – sein Name lautet Unhörbar
Greif!    –  doch es ist nichts zu fassen –  sein Name lautet Unfassbar“.

Innerhalb der taoistischen Lehre und Metaphorik gibt es auch spirituelle Handwerker, die Bildnisse von Gottheiten und Heiligen – Ikonen – herstellen, wie sie nach der Überlieferung im 7. Jahrhundert der Gelehrte Chin-ming Ch’i-chen beschreibt. Die „großen Bildnisse“ haben danach keine äußere Form und auch in ihrer größten Perfektion keine Farbe. Sie sind „ganz klar, leer und ruhig“. Weder das Sehvermögen noch das Gehör des Menschen können sie erreichen. Infolge kosmischer Veränderungen manifestieren sie sich kurzzeitig, um dann wieder in den verborgene Existenzzustand zurückzukehren. Die Betrachtung der „perfekten Bildnisse“  bedeutet Konzentration und führt zur Vision des Göttlichen. Hat man diesen Zustand erfahren, steht man am Anfang, mittels Farben, Metallen und Jade „Ikonen“ zu schaffen. Bildnerisches Tun fungiert als spirituelle, philosophische Metapher,  die sich auf das faktische Kunstschaffen Chen Ruo Bings übertragen lässt: Ist er ein Ikonenmaler?

Eine spirituell begriffene Ästhetik lehrt und praktiziert auch der Buddhismus und speziell die Philosophie des  Chan- oder Zen-Buddhismus. Ein entscheidender Unterschied zwischen der westlichen, christlich geprägten Spiritualität und der asiatischen bzw. buddhistischen besteht darin, dass der Zen-Buddhismus als eine Religion ohne Gott zu verstehen ist.

Zwar kennt die christliche Mystik ebenfalls das Prinzip der Verneinung Gottes und es scheinen die Worte Meister Eckharts (1260 – 1328) und die des Zen-Meister Linji (gestorben 866/867) dasselbe zu meinen, wenn Eckhart predigt: „Das Höchste und das Äußerste, was der Mensch lassen kann, das ist, dass er Gott um Gottes willen lasse,“ und Linji fordert: „Wenn ihr Buddha trefft, tötet Buddha.“ Aber Linjis „Tötung“ des Gottesbildes geschieht nicht zugunsten einer letztlich von Meister Eckhart  angestrebten Transzendenz. Sie bringt vielmehr Immanenz zum Leuchten. In Chen Ruo Bings Farbmalerei kommt Immanenz zum Leuchten.

Der Zen-Buddhismus wendet  die buddhistische Religion auf radikalste Weise ins Wesenhafte. Immer wieder erscheint in den Zen-Schriften nahezu wie ein Imperativ die Aussage: „Nichts Heiliges“. Alle Geistigkeit findet sich im Hier und Jetzt, spirituelle Übung dient der Geistesentfaltung im diesseitigen Alltag, in der Realität.

Malerei wird auch in der Zen-Philosophie als geistige Kunst, als eine äußerste Konzentration des Geistes begriffen. Um vom „primitiven“ Sehen, das der Lust der Sinne oder dem zweckorientierten Verstand dient und damit an der Oberfläche bleibt, zur wahren Schau von Geistigkeit zu gelangen, muss die Farbe ausgeschaltet, „getötet“ werden – ein schmerzlicher Akt. Die „leidenschaftliche Liebe zur Schönheit“ der Farbe führt in der zen-buddhistischen Ästhetik zu ihrem Ausschluss.  Mit der „Tötung der Farbe“ erreicht man Monochromie, die zur sichtbaren Darstellung der völligen Abwesenheit von Farbe wird. Farblosigkeit versteht sich so als Vollendung des ästhetischen Wertes aller Farben. 

Um diese philosophische Kunst zu praktizieren, entwickeln Zen–Maler Techniken wie die des „geizigen Pinsels“, der „Sparsamkeit der Tusche“ und in Extremform die der „weißen Malerei“, in der nur noch schriftlich auf das gedeutet wird, was auf leerem Malgrund imaginiert ist. Im übertragenen Sinne hatte Chen Ruo Bing seine „Leidenschaft“ für die Farbe getötet, um ihr mit Ruhe und Gelassenheit zu begegnen. Nun malt er mit geizigem Pinsel und sparsamer Farbe weiße Bilder“, die das Wesen der Farbe erfahren lassen.

Ebenso philosophisch differenziert und dem westlichen Verständnis diametral entgegengesetzt, stellt sich das Verständnis und der ästhetische Umgang mit Licht dar: So empfindet man das stumpfe Licht von Jade als ein Ideal. Während in der christlichen Malerei Gottes Anwesenheit als blendendes Licht erscheint, Erlösung mit „Erstrahlen“ und „Er-Leuchten“ versinnbildlicht wird, erscheint in der asiatischen Ästhetik Licht gemäß der Bedeutung „Nirvana“ im Stadium des „Verlöschens“, zielt sie auf die „Abwesenheit“ von Licht. Richtungslos schmiegt das Licht sich an das Dunkel. Es gilt eben nicht  zu beleuchten, um die einzelnen Dinge um ihrer Präsenz willen zum Strahlen zu bringen. Stattdessen gehen alle Figuren in einander über, reflektieren sich im Zwie- oder Zwischenlicht und bleibt alles in einer Schwebe. Jedes Seiende spiegelt in sich alle anderen Seienden, die ihrerseits dieses Seiende widerspiegeln. 

Farbe und Form, Figur und Grund erstrahlen und verlöschen, schmiegen sich aneinander und trennen sich, erscheinen und verschwinden in der Malerei von Chen Ruo Bing.  In ihr spiegeln sie sich wechselseitig.

Spiegeln meint Verwandlung. Die fernöstliche Kultur ist eher der Verwandlung und Vergänglichkeit zugewandt als der Identität und Beständigkeit. Häufig verwendet man den Begriff des Windes, so heißt etwa Landschaft „ Ansicht des Windes“. Mit dieser Sicht verliert die Landschaft alles Feste, das mit dem Land konnotiert ist. Vielmehr symbolisiert sie das Fließende oder Verfließende. Die gemalte wie auch letztlich die natürliche Landschaft  soll nicht als Gegenüber und Gegenstand in Besitz genommen werden, sondern Betrachter und Landschaft sollen eins werden. Landschaft muss nach dieser Betrachtungsweise so gesehen werden, wie sie sich selbst sieht. Angestrebt wird ein Sehen vor der Trennung von Subjekt und Objekt. Vom Künstler erfordert dies einfühlsames, intuitives Schaffen.

„Derjenige der überlegt und den Pinsel bewegt mit der Absicht, ein Bild zu malen, geht an der Kunst des Malens vorbei, während der, der denkt und den Pinsel ohne solch ein Ziel bewegt, die Kunst des Malens erreicht.  Seine Hand wird nicht steif, sein Herz wird nicht kalt werden, ohne zu wissen, wie vollendet es ist.“ Chang Yenyüan (9. Jahrhundert)

DÜSSELDORF

Chen Ruo Bing steht von frühster Kindheit unter dem Einfluss asiatischer Weltsichten und ihrer Ästhetik, die er seit dem 8. Lebensjahr in Form von Kalligraphie aktiv ausübte. Als er 1992  in den vollkommen anderen Kulturkreis Deutschland kam, suchte er sich Halt, in dem er sich auf die ihm vertraute Tuschmalerei fokussierte. Zur Finanzierung seines Studiums arbeitete er als Aufsicht bei der Documenta IX in Kassel und war so unmittelbar mit der internationalen Gegenwartskunst konfrontiert – ein „Crashkurs“. Mit seiner Entscheidung bei Gotthard Graubner zu studieren, trifft er auf einen Künstler, der sich sehr zur asiatischen Kultur hingezogen fühlt. Obwohl einer der wichtigsten Farbmaler, lässt er den Neuankömmling an der Düsseldorfer Kunstakademie weiterhin mit farbloser Tusche malen und fördert ihn „schweigend“, indem er kommentarlos dessen neu entstandenen Tuschmalereien in einer Ausstellung zeigt, worauf sein Student ein Stipendium erhält. Schließlich nähert sich Chen Ruo Bing aus eigenem Antrieb der Farbmalerei und studiert insbesondere die Theorien von Ad Reinhard und Barnett Newman – beides Künstler, die eine kontemplative Kunst schufen und für die schwarz eine entscheidende Rolle spielte. Er erlernt den westlichen Blick auf die Kunst und kommt für sich zu dem Schluss, dass die Ideen der westlichen Gegenwartskunst und der traditionellen chinesischen Kunst nicht vollkommen gegensätzlich sind. Dennoch fällt er in eine zweijährige Orientierungslosigkeit und sucht einen Ausweg im Rückgriff auf frühere Arbeiten und im Experimentieren mit anderen Materialien und Medien. Schließlich öffnet sich ihm 1996/97 der Weg der Farbe, den er seither konsequent geht. Nach eigener Aussage interessierte ihn Farbe immer schon, aber er hatte bis dahin keinen klaren Zugang gefunden; doch als die Entscheidung einmal getroffen war, erkannte er die Nähe zur vertrauten Tuschmalerei: „Farbe ist ein Phänomen, das keine Grenzen hat. Tusche und sogenannte Farbe sind nichts Gegensätzliches, weil Tusche eine Art Farbe ist. Farbe ist ein tiefes Konzept.“ Farbe interpretiert er somit als das Konzept seiner Malerei, das Adjektiv „tief“ lässt aber auch die Deutung zu, sie als „geistiges Konzept“ zu verstehen. 

Trotz aller Nähe zu seinem Lehrer, trennt sie immer offensichtlicher die unterschiedliche Artikulation ihrer Malerei.

Karin Stempel beschreibt und deutet exemplarisch ein Aquarell Graubners „Farbraum“ von 1963 mit Begriffen, die der asiatischen Ästhetik nahe zu sein scheinen: „In diesem Aquarell von Gotthard Graubner ist kein Zustand festgehalten, sondern ein Spannungsverhältnis, das zwischen Bindung und Lösung, zwischen Körper und Nicht-Körper, zwischen Fläche und Raum einen Pattzustand formuliert, in dem die Gegensätze nicht zum Stillstand gekommen sind, sondern ausgetragen werden, indem sie sich fortwährend in sich brechen und neu erzeugen – wie die rückläufige Bewegung von auslaufenden Wellen am Strand.“ Sie spricht von „fließenden Grenzen“, vom „Weichbild der Farben“, von der „Relation der Unschärfen“ oder vom „Ungefähren“.

Genau dieses so empfundene „Ungefähre“ trennt Lehrer und Schüler; Chen Ruo Bings Malerei ist klar, deutlich und präzise, ohne eindimensional zu sein. Die „weichen Kissenbilder“ Graubners verfestigt er in seinen jüngsten Bildern zu unmathematisch exakten Farbfiguren, besser Farbkörpern, die ihr Volumen in der Wechselwirkung zum Farbgrund entfalten. Der von Karin Stempel hervorgehobenen gewaltigen Dramatik der Gegensätze in der Malerei Graubners steht ein ruhiges Atmen in den Kompositionen von Chen gegenüber.  

Bei der Betrachtung seiner Bilder meint man neben asiatischen Lehrmeistern auch verschiedene „verwandte“ westliche zu sehen. Weiß man, dass er mit der „farblosen“ Tuschmalerei groß wurde und das Quadrat als Malfläche bevorzugt, denkt man unweigerlich an Malewitsch. Das „Schwarze Quadrat“ und die dahinterstehende, nahezu religiöse Lehre des Suprematismus scheint ihm vertraut: „Das Wirken des Suprematismus ist durch keinerlei Grenzen eingeengt,“ schreibt Kasimir Malewitsch, „die ihm durch  ‚praktische’, ‚zweckdienliche’ oder ‚zweckentsprechende’ Aufgaben oder durch das Suchen nach Wahrheit oder nach künstlerischen oder ästhetischen Erkenntnissen gesetzt werden könnten. Der Suprematismus dient nichts und niemandem, da er sich in der gegenstandlosen Gleichheit oder im Null-Gewicht befindet. Er ist das ‚Nichts’ auf die Frage der Allgemeinheit nach dem ‚Was’. Alle menschlichen Bemühungen sind doch letzten Endes trotz zweckgebundener und praktischer Erwägungen auf das eine Ziel gerichtet, den gegenstandslosen, absoluten Zustand zu erreichen, in dem sie Gewicht und Unterschiede aus dem Auge verlieren.“  

Zwar gilt der Kreis mit seiner zentrischen Symmetrie, die keine Einzelrichtung bevorzugt, als einfachste visuelle Gestalt (die Sonne  als bedeutendste und eindrucksvollste Lichtquelle zeigt sich als natürliche und damit elementare Kreisgestalt). Doch sieht auch Wassily Kandinsky, der Psychologe und Musiker der Farben in der schematischen Grundfläche des Quadrates die „objektivste Form“, die für ihn eine lebende Wesenheit,  „ein Du“ bedeutet. Der poetische Wissenschaftler Paul Klee versachlicht diese Wesenheit und sieht im Quadrat ein aktives Gegenüber ohne spezielle psychologische Eigenarten. Für ihn entsteht eine Spiegelbildlichkeit zwischen Kunstwerk und ‚Ich’. In den Dimensionen oben – unten unveränderlich sehen sich für ihn im Quadrat das ‚Ich’ und das Werk ins Angesicht.

Hinsichtlich der Grundfläche sind bei einem Kreis die Flächenanteile gleichrangig verteilt und bei einem Quadrat  differenziert gewichtet. Obwohl am weitesten vom Zentrum entfernt, ziehen die Ecken die größte Aufmerksamkeit auf sich. Gegenüber der geschlossenen Form des Kreises wohnt dem Quadrat die Kraft der visuellen Überschreitung der eigenen Begrenzung inne. Chen Ruo Bing lotet diese Gestaltqualitäten aus und setzt sie wahrnehmungspsychologisch immer wieder anders ein. Er bringt die Wirkungsweisen von Quadrat und Kreis in einen Dialog und weist den Weg zur Quadratur des Kreises.

Ein Weggefährte war sicherlich Rupprecht Geiger, der in den 1960er Jahren für die Entfaltung der Farbe eine einfache Form sucht: „Die Vielfalt abstrakter Formen mit ihren oft skurrilen Umgrenzungslinien lenkt von der Farbe ab, während bei archetypen Formen, wie Rechteck und Kreis, die Farbe unbeeinflusst hervortreten kann. Um die Farbe noch besser analysieren zu können, übertrage ich das Kompositionsprinzip des Kontrapunktes auf die Farbe und gebe einer Grundfarbe eine Kontrastfarbe als Exponent zur Seite.“

Das komplexe Phänomen Farbe eröffnet mit seinen physikalischen, physiologischen, psychologischen und anthropologischen Dimensionen ein unbegrenztes Feld auf der Suche nach geistigen und zugleich sinnlichen Erfahrungsmöglichkeiten. Trotz der erkämpften Autonomie der Farbe besitzt sie in der westlichen Kultur immer noch einen hohen Symbolgehalt und wirkt entsprechend psychologisch und symbolisch. Ihre wesenhafte Eigenart, Prozess zu sein, eröffnet dem Künstler nahezu unbegrenzte Freiräume, in denen man sich verlieren kann. Chen Ruo Bing macht sie dem Betrachter mittels seiner ästhetischen Disziplin zugänglich.  

Er weiß um den Prozess der Farbverwandlung bei Mark Rothko ebenso wie um die Wechselwirkungen des Erscheinens und Verschwindens bei Josef Albers. Auch Rothkos Spiritualität und Sendungsbewusstsein sind ihm nicht fremd: „Ein Bild lebt in Gemeinschaft, indem es sich in den Augen des einfühlsamen Betrachters entfaltet und dadurch in ihm auflebt. Es stirbt, wenn diese Gemeinschaft fehlt. Deshalb ist es ein gewagtes und gefühlloses Unterfangen, ein Bild in die Welt zu entsenden.“(M. R.) Albers kann dem gegenüber als Rationalist bezeichnet werden, will aber auch er den Betrachter auf eine intuitive Weise ansprechen: „… das ist es, was ich will: Meditationsbilder des 20. Jahrhunderts schaffen!“ 

Albers scheint  in der Entwicklung Chen Ruo Bings eine besondere Rolle zu spielen, die nicht nur darin besteht, dass er Artist in Residence der Josef und Anni Albers Foundation in den USA sein konnte. Sicherlich wurde seine Liebe zum Quadrat und seine Fähigkeit, Farben in eine sublime Wechselwirkung zu bringen, durch Albers Kunst entscheidend stimuliert. 

Nähe besteht auch zu dessen Verständnis vom Künstler als Kreator. „Das Ziel des Lebens: lebende Geschöpfe. Das Ziel der Kunst: lebende Schöpfung.“  Dennoch besteht auch ein entscheidender Unterschied, kann Albers als ein schöpfender Theoretiker, Chen hingegen als geistiger Transformator bezeichnet werden. Als Farbmaler weiß er, dass sich das Wesen der Farbe letztlich der Logik einer verbindlichen Theorie verweigert: „Das Absolute – der Farbe, ihrer Energie, ihrer Lumineszenz – entsteht in jedem Bild als ein anderes – und auch in jedem Betrachter.“ (Erich Franz) Ihrer Natur entsprechend, behandelt sie jeder Künstler individuell, so auch Chen, um Spiritualität sichtbar werden zu lassen: „Unterschiedlicher Künstler finden unterschiedliche Wege, um die Transformation von Materie zu etwas Geistigen zu erreichen. Die Arbeit mit dem Material, die Farbe selbst, transzendiert Materialität und wird Spiritualität. Ich tue dies, indem ich etwas Reales schaffe und es so auflade, dass es zu etwas Abstraktem wird. So gesehen, ist abstrakte Kunst eigentlich realistische Kunst.“ 

Dabei strebt Chen Ruo Bing, ganz im Verständnis der Chan-Philosophie statt Transzendenz Immanenz an und bleibt im Hier und Jetzt der Malerei – Farbe ist Farbe.


In dem 2007 erschienen Katalogbuch Chen Ruo Bing-The Process of Responding findet sich ein sehr aufschlussreiche Interview über die persönliche und künstlerische Entwicklung Chen Ruo Bings, das zwischen dem Maler und dem Kunstkritiker Liu Libin 2006 in Beijing stattfand. Einerseits sehr sachlich von beiden Gesprächspartnern geführt und entsprechend informativ für den Leser, schwingt anderseits eine philosophische, ja fast poetische Stimmung bei den Fragen und Antworten mit. Und so endet das Interview für den westlichen Leser nahezu abrupt:
Liu Libin: Toast the moon. The moon is very bright in Bejing today!
Chen Ruo Bing: Art is art.

Dieser Essay ist eine leicht gekürzte Fassung eines Essays, der 2015 im Katalog Chen Ruo Bing zur gleichnamigen Ausstellung in der Gingko Space, Beijing, erschienen ist.