CHEN RUO BING

Das “große Bild” und die Steigerung des Lebens

Zum Werk des Malers Chen Ruo Bing

Heinrich Geiger

Hegel sagt: “Das Kunstwerk ist nicht zum Genuß, sondern zur Steigerung des Lebens da.” Jean-Luc Nancy kommentiert diesen Satz folgendermaßen: “Die Betrachtung verbraucht nicht, was sie betrachtet: Sie erneuert an ihm ihren Hunger und Durst”, womit wir bei der Kunst Chen Ruo Bings wären.

“Eintauchen in die Farbfelder”

Als ich ein Bild Chen Ruo Bings auf der Art Cologne zum ersten Mal sah, fiel mir sofort das Streben des Malers nach größtmöglicher Einfachheit und Konzentration in der Verwendung der Mittel auf. Mein erster Eindruck war, dass dieses Bild mit seinen elementaren Grundformen und seiner enormen farblichen Präsenz einen Werkbegriff verkörpert, der unabschließbar ist und seine Existenz einem bestimmten Verständnis von Wirklichkeit und Sprache verdankt. Ich fühlte mich intuitiv an eine Bemerkung des amerikanischen Malers Brice Marden erinnert: Die Bilder seines Bilderzyklus Cold Mountain böten, wie er sagte, “offene Situationen” an. Gleichzeitig kam mir aber auch das Buch Zhuangzi in den Sinn. Der überwiegende Teil dieses Klassikers der daoistischen Literatur besteht aus Gleichnisreden und Bildern, mit denen das Unsagbare dem Leser nahegebracht werden soll. Aufgrund der tiefen Überzeugung, dass jenseits der Worte Übereinstimmung herrsche, wird die Aussagekraft der Worte relativiert. Im Buch Zhuangzi ist von einem “Kippbecher” die Rede: Ein Becher, der sofort kippt, wenn er voll ist, und wieder aufrecht steht, wenn er leer ist, symbolisiert die Bereitschaft, fortwährend Neues aufzunehmen und, wenn es einmal aufgenommen ist, es gleich wieder zu dekonstruieren. In diesem offenen Interpretationsraum (Brice Marden: “offene Situation”) wird alles vermieden, was die Welt differenziert, analysiert, kategorisiert und sie dadurch in ihrer Ganzheitlichkeit zerstört. In Übereinstimmung mit Zhuangzi ist Chens Malerei durch die Einsicht bestimmt, dass der, der erkennt, nicht redet; und wiederum der, der redet, nicht erkennt.

Von Chen Ruo Bing ist in dem Katalog zu einer Einzelausstellung im Kunstmuseum Bochum 2016 zu lesen: “Wenn ein Betrachter diese Kunst ansieht, muss er lange und intensiv schauen und die Herausforderung akzeptieren, sie mit seinem ganzen Wesen, mit seinen Sinnen und seiner Seele aufzunehmen. Die Menschen müssen Wissen, verbale und rationale Erklärungen außer Acht lassen und zulassen, dass sie in eine intime Beziehung mit der Leinwand eintreten, alles andere müssen sie vergessen. Das ist der Weg, wie sie die spirituelle Welt der Kunst selbst erleben und beginnen werden, Macht der Visionen kennenzulernen.”

Offene Situationen und heitere Fülle

Die lebensbejahende Botschaft der vom Abbild gänzlich befreiten Abstraktion, so schien mir das Bild Chen Ruo Bings inmitten der Ausstellungskojen auf der Art Cologne zu sagen, basiert auf einer Erfahrung, die den ganzen Menschen einschließt – weshalb es mich auch nicht überrascht, dass Bilder von ihm in einem Klinikum hängen. Auf der neu eingerichteten Covid-Station des Stuttgarter Robert-Bosch-Krankenhauses – einen Pionier beim Thema “Healing Art” – haben 2020 insgesamt 19 seiner Bilder Eingang in die Patientenzimmer gefunden. “Man kann eintauchen in die Farbfelder”, so fasst die Kunstbeauftragte des Krankenhauses, Isabel Grüner, deren Wirkung zusammen. Ich möchte hinzufügen, dass sie heilen, ohne dass sie Erfahrungen wiederholen, die romantischer, mysthischer, theosophischer oder sonstiger religiöser Natur wären.

Trotz ihrer spirituellen Ausstrahlung stehen bei den Bildern Chen Ruo Bings rationale Strukturfragen im Vordergrund. Chen entwickelt sein Werk allein aus den von ihm festgelegten formalen Bedingungen: den Bedingungen der Farbfeldmalerei. Vor einem Bild von ihm zu stehen, heißt nicht mehr, einer Erzählung zu folgen, sondern sich einem Geschehen auszusetzen, das aus den beiden fundamentalen Bedingungen aller ästhetischen Rezeption – dem Hier und dem Jetzt – lebt. Chen Ruo Bings Arbeiten besitzen eine Energie, die ich aufgrund ihrer besonderen Art der Ausstrahlung als zutiefst human bezeichnen möchte. Von strenger Askese und akademischer Zurückhaltung keine Spur; an ihrer Stelle heitere Fülle, die uns die Bedeutung von Kunst in der heutigen technisierten Welt vor Augen führt und damit auch die Grenzen des Hier und Jetzt sprengt.

Chen Ruo Bings Malerei entfaltet ihre Wirkung nicht nur in den engeren Bahnen der westlich geprägten Moderne, sondern vor dem weiteren Horizont einer polyzentrischen Geschichte der Kunst. Tradition im Neuen, Universalität im Konkreten. In die Erhabenheit und Zweckfreiheit, die dem Werk Chen Ruo Bings ganz offensichtlich innewohnen, wurde es aber nicht gedrängt; vielmehr hat es sich diese selbst gesucht, weil es ein “achtsames Denken” (Chen Ruo Bing) zu befördern sucht. Chen orientiert sich an den “Ursächlichkeiten und Möglichkeiten menschlichen Seins”. Es geht ihm um lebendige Zusammenhänge, um Räume von beweglicher Kontinuität; Karin Stempel hat vom “ruhigen Atem” in den Kompositionen von Chen Ruo Bing gesprochen. Wie zum Beispiel bei der Einzelausstellung im Bochumer Kunstmuseum zu erleben war, wird kein Bild isoliert, stets sieht man eine Arbeit in Verbindung mit einer oder mehreren anderen; Formen antworten einander, ergänzen sich, bilden, wie die Farbe, Kontraste und Zusammenhänge. Das Helle und Leichte strebt wie selbstverständlich nach oben, es entsteht eine Form der visuellen Erkenntnis, die schön ist, eben weil sie nach Wahrheit und auch Aktualität strebt. Etwas zeigt sich. Und das, was sich da zeigt, will gesehen, mit den Sinnen erfasst werden, denn Chen Ruo Bing arbeitet aus und nicht mit der Farbe.

Jenseits der Kulturen

In lebensphilosophischer Hinsicht ist die Geisteshaltung eines Zhuangzi zu erkennen, der uns lehrt, in völliger Übereinstimmung mit der Natur nach der freien ästhetischen Welt zu streben. In dieser manifestiert sich eine “imaginative Wirklichkeit”, durch die sich der Mensch Bewusstsein über sein Leben verschafft. Einer der großen chinesischen Ästhetiker des 20. Jahrhunderts (Li Zehou) spricht in diesem Kontext davon, dass diese Bewusstwerdung die sinnliche Wahrnehmung des “Kleinen Ichs” übersteigt, somit etwas grenzenlos tiefes Geistiges ist. An dieser Stelle scheint es mir angebracht zu sein, den Begriff der “visuellen Identität” einzuführen – einer Identität, bei der im Falle Chen Ruo Bings geistige und malerische Einflüsse aus “Ost” und “West” zwanglos zusammenfinden, und zwar mit den Mitteln der Farbfeldmalerei. Ich erinnere mich an Einträge in einem Tagebuch von Raimer Jochims, auf den ich mich bei der Verwendung des Begriffs der “visuellen Identität” beziehe. Die Einträge lauten: “alles sehen” (23.8.77) und “schweigende Weite” (24.8.77).

Chen Ruo Bing hat sich mit seiner Malerei ebenso für einen Weg entschieden, der in die “Weite” führt. Mit der Frage nach der Identität befasst er sich weder kulturell noch politisch noch weltanschaulich oder genderbasiert, sondern rein visuell (“alles sehen”). Er reiht sich in die Tradition großer Meister wie Ad Reinhardt und Barnett Newman ein, die mit ihrer Malerei die Empfindsamkeit des Menschen jenseits aller kulturellen und nationalen Grenzen ansprechen. Als Maler des 21. Jahrhunderts ist er allerdings mit ganz neuen Herausforderungen konfrontiert. Das Sendungsbewusstsein, mit dem die großen Vertreter der abstrakten Kunst die Weltbühne im 20. Jahrhundert bespielten, ist an dessen Ende verflogen. Die Überzeugung von einst, mit der abstrakten Malerei eine in der Kunstgeschichte unvergleichliche Revolution hervorzubringen, hat sich verflüchtigt. An ihrer Stelle hat sich ein Gefühl von Ernüchterung breit gemacht. Die Gewissheit, von einem universal verständlichen und von allen als fortschrittlich eingestuften Stil getragen zu werden, ist erschüttert; Abstraktion zeigt sich in der postmodernen Vielfalt der Stile als eine Möglichkeit unter vielen. Der Maler Chen Ruo Bing bewegt sich künstlerisch in dieser Situation mit einer inneren Souveränität, die zum einen auf seiner Verankerung in der traditionellen chinesischen Malereiästhetik und zum anderen auf seiner persönlichen Geschichte beruht. Als Wanderer zwischen den Welten hat er Zugang zu mehreren Kulturen gewonnen.

Ost-West-Synthese

Die Unterschiedlichkeit der asiatischen und der westlichen Kulturen (die amerikanische eingeschlossen) hat zu bestimmten Zeiten zwar Neugier und Faszination ausgelöst, in erster Linie aber als perfekte Barriere zwischen zwei Parallelwelten gedient. Zumindest ist aber im Laufe des 20. Jahrhunderts, dank universaler visueller Kommunikationsstrategien, eine Begegnung zwischen den Kulturen möglich geworden, die in Einzelfällen zu einer glücklichen Synthese geführt hat. In diesen Fällen wurden die abstrakten Künstlerinnen und Künstler aus europäischen und außereuropäischen bzw. nicht-westlichen Kulturen zu Akteuren in einem geschichtlichen Prozess, der aus einer distanzierten Vergangenheit in eine möglicherweise gemeinsame Zukunft führt. Ein anderer chinesischstämmige Maler, nämlich Zao Wou-Ki (Zhao Wuji, 1920 oder 1921-2013), sagte einmal: “Ein Bild scheint mir gut, wenn ich danach ein anderes malen kann. Ein schlechtes Bild hört auf.” Mit der eigenen Kunst nicht in eine schöpferische Sackgasse zwischen den Kulturen zu geraten – dieser Gedanke scheint mir nicht für Zao Wou-Ki, sondern auch für Chen Ruo Bing leitend zu sein.

Im Gegensatz zu Zao Wou-Ki zeichnet den künstlerischen Werdegang Chen Ruo Bings allerdings aus, dass er in den ersten Jahren nach seiner Ankunft in Deutschland (1992) noch der asiatischen Tuschmalerei verhaftet blieb und erst später den Zugang zur Farbmalerei suchte und fand. Zao Wou-Ki dagegen verschrieb sich sofort nach seiner Ankunft 1948 in Paris der westlichen Moderne und verspürte erst später die Notwendigkeit, an die Kultur seiner Heimat anzuknüpfen. Im Jahr 1961 bekundete er, dass er im Laufe seines Lebens in Frankreich nach und nach für sich China wiederentdeckt habe: “Paradoxerweise musste ich nach Paris kommen, um meine wahren Wurzeln wiederzuentdecken”. In den Bildern des jungen, heimatlosen, im Exil lebenden Künstlers klingen in Form von unmittelbar in den Malgrund eingeprägten ideogrammähnlichen Elementen Reminiszensen an die chinesische Kultur an. Davon bei Chen Ruo Bing keine Spur. Wie einem Interview zu entnehmen ist, wurde ihm schon am Ende seines Studiums (1998) an der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf in der Klasse von Gotthard Graupner bewusst, dass er und seine Mitstudierenden, auch wenn sie aus unterschiedlichen Ländern kämen, in einer globalisierten Welt die gleichen Ausgangsbedingungen hätten. Dies habe ihm, wie weiterhin nachzulesen ist, eine “befreite Weltsicht” und “Selbstvertrauen” gegeben. “Nach meinem Auslandsstudium habe ich gleich erkannt, dass sich die östliche und die westliche Kunst nicht grundsätzlich unvereinbar gegenüberstehen und Kunstwerke nichts anderes sind, als Spuren der menschlichen Überlegungen zum Sein, die aus der sinnlichen Wahrnehmung hervorgegangen sind.”

In der Schwebe der unendlichen Möglichkeiten

Die große Kreativität Chen Ruo Bings verdankt sich der Fokussierung der künstlerischen Mittel. An keiner Stelle verlässt Chen den selbstgesteckten Rahmen, um vielleicht den Betrachter mit etwas Neuem oder Provokanten zu überraschen. Seine Arbeitsweise verleiht seinem Werk die ihm eigene Ruhe und schafft die nötigen Voraussetzungen für ein konzentriertes Betrachten.

Nicht zuletzt drückt sich seine Arbeitsweise in einer eindrucksvoll gleichmäßigen Qualität der Arbeiten aus. Seine Bilder sind “abstrakt” in dem Sinne, dass sie eine Schnittstelle zwischen einer inneren Welt und der Welt der bemalten Leinwand, zwischen innen und außen verkörpern. Auf diese Weise bereichert Chen Ruo Bing die westlich bestimmte Tradition der abstrakten Malerei durch Elemente, die der chinesischen Kunsttradition entstammen. Angesichts der vielen Ausstellungen, die uns chinesische Kunst als “avantgardistisch” vorstellen, ist ganz aus dem Blick geraten, dass diese in ihrer Grundausrichtung nicht auf Revolutionen und ständige Überbietung großer Kunstvorbilder abzielt. Sie definiert sich als ein menschlicher Reifungsprozess. Künstlerisches Handeln ist nicht Material- und Inhaltsbezwingung, wie man meinen könnte, wenn man Bilder des über viele Jahrzehnte in China vorherrschenden Sozialistischen Realismus im Kopf hat. Der chinesische Maler muss sich nach Ansicht der Theoretiker vielmehr in einen inneren Zustand der Entleerung, der Entsättigung, der daraus resultierenden Erweiterung, des Gelöstseins, der Sammlung, der inneren Disponibilität und der Konzentration begeben. Er muss sich von aller Formen-Ähnlichkeit befreien und sich um einen Widerklang bemühen, der geistiger Natur ist. Des “Geistes-Widerklang” steht im Vordergrund. Und wenn in der chinesischen Ästhetik von dem “Gefühlszusammenhang der Kunst” gesprochen wird, dann ist damit ein Schein gemeint, der aus der Differenz von Bild und Bilderscheinung lebt. In der chinesischen Ästhetik ist ausgehend vom Buch des Laozi, einem weiteren Klassiker des daoistischen Denkens, vom “großen Bild” die Rede, dessen Größe in einer grundlegenden Offenheit besteht. Das “große Bild” erhält simultan mögliche Formgebungen aufrecht, es erstarrt nicht in einer definitiven Bildlösung, die im abendländischen Denken das Meisterwerk ausmacht. Das Pathos der Vollendung wird außer Kraft gesetzt.

Wie ich im Werk Chen Ruo Bings meine feststellen zu können, folgt sein Schöpfer dem Ideal des chinesischen Malers, Modifikationen und Transformationen, das heißt Wandlungsprozesse darzustellen und ein Bild kommunizierend-operierend zu halten. Der Verlust, der mit jeder eindeutigen Bestimmung eines Bildmotivs einhergeht, wird hier bewusst vermieden, das Bild wird in der Schwebe der unendlichen Möglichkeiten gehalten. Es wird somit zu einer nicht endenden Welt und enthällt die gleiche energetische Aufladung wie der Lebensprozess selbst. Dass es in seiner Wirkung nicht stillgestellt werden kann, erfährt jeder, der, wie ich, ein Bild Chen Ruo Bings bei sich Zuhause an der Wand hängen hat.

“Die Leere des Bildes”

In der abstrakten Malerei des 20. Jahrhunderts spielt das Konzept der Leere eine wichtige Rolle. Der symbolistische Dichter Stéphane Mallarmé hatte das Interesse der Künstler an ihr mit seinen “page blanche”, die für die absolute Leere stehen, vorweggenommen. Die Analogie zur Kunst besteht darin, dass die Leere, die uns auf der weißen Seite in der Poesie begegnet, der “Geist” in der abstrakten Kunst ist: etwas, das zugleich da ist und nicht da ist, etwas, das sich nicht auf einen stofflichen Kern zurückführen lässt. Wenn Chen Ruo Bing sagt: “Die Leere des Bildes ist die Quelle der Sinnhaftigkeit”, spricht er “Über das Geistige in der Kunst” (so der Titel eines Buchs Wassily Kandinskys, das im Jahre 1912 erschien) auf eine Weise, deren Bedeutung sich erst im Bezug auf die chinesische Ästhetik erschließt und damit außerhalb der Ideenwelt der abstrakten Malerei in Europa und in den USA liegt.

Die programmatische Feststellung Chen Ruo Bings ruft bei allen, die mit der chinesischen Ästhetik vertraut sind, in Erinnerung, dass in der chinesischen Kunst nicht nur dem Künstler, sondern auch dem Betrachter eine wichtige Stellung zukommt. In China “heißt Malen nicht Abmalen”, wie der französische Sinologe Francois Jullien in seinem Buch Das große Bild hat keine Form oder Vom Nicht-Objekt durch Malerei aus dem Jahr 2005 aufgezeigt hat. Der Verlust an Mehrdimensionalität, der mit jeder eindeutigen Bestimmung von Darstellungsgegenständen einhergeht, wird ganz bewusst vermieden, davon war bereits die Rede gewesen; der Blick soll nicht auf den einzelnen Gegenstand, sondern auf den Gesamtzusammenhang, in dem er sich befindet, gelenkt werden. Und hierbei spielt die “Leere” eine wichtige Rolle – nicht im Sinne einer Leerstelle, die gefüllt werden müsste, sondern als ein wirkungsästhetisches Moment, das im Zusammentreffen eines Bildwerks mit einem Betrachtenden entsteht. Ausgelöst durch dieses Ereignis wird ein Bild, auf dem zum Beispiel ganz klar und deutlich ein Baum und eine Hütte zu erkennen sind, plötzlich “leer”.

Wie ist das möglich, dass ein Bild, auf dem ein konkreter Gegenstand zu sehen ist, leer wird? Die Erfahrung der Leere kommt dabei durch eine doppelte Überschreitung zustande, wie sie uns aus der meditativen Versenkung bekannt ist. Erste Überschreitung: die Überschreitung der gegenständlichen Äußerlichkeit. In der chinesischen Ästhetik ist die zeiträumliche Erscheinung von Gegenständen oder auch ganzen Landschaften nebensächlich. Bedeutsam ist der ewige Wandel und nicht die Bannung von Objekten in einem starren Koordinatensystem. Zweite Überschreitung: die Überschreitung des betrachtenden Ichs. Die Subjektphilosophie westlicher Provenienz wird über Bord geworfen und damit auch ihr Anspruch, die Objekte der Welt in ihrem “An-sich-sein” zweifelsfrei erkennbar und damit beherrschbar zu machen. An ihre Stelle treten die ästhetischen Kriterien der “geistigen Ähnlichkeit”, der “Aktivierung des Geistigen” oder der “Belebung des geistigen Rhythmus”, wie sie uns aus der chinesischen Malereitheorie bekannt sind.

“Quelle der Sinnhaftigkeit”

Die Bilder Chen Ruo Bings stehen, wie durch die Ausführungen zum Begriff der Leere in der chinesischen Ästhetik deutlich geworden sein dürfte, im Rang von Ikonen, deren Wirkung sich allein erfahren, aber begrifflich nur schwer fassen lässt. Dennoch beruht sein Werk auf einer klar umrissenen künstlerischen Position. Denn in der “Leere” traditioneller chinesischer Malerei ist die Möglichkeit angelegt, die Persönlichkeit des Betrachters zu gestaltender Aktivität anzuregen. Die “Leere” bleibt nicht ewig leer. Sie wird “zur Quelle der Sinnhaftigkeit”, wie Chen Ruo Bing sagt, weil durch sie die betrachtende Aufmerksamkeit nicht nur vom sinnlichen Gegenstand, sondern auch vom betrachtenden Ich freigesetzt wird. Die “Leere” chinesischer Malerei, und, wie ich behaupten möchte, auch die “Leere” der Bilder Chen Ruo Bings ermöglichen dem Betrachter einen Zustand, der geistiger Natur und somit voller Sinn ist. Die reine Abstraktion seiner Farbfeldmalerei beruht auf dem Gedanken, dass ein Kunstwerk immer ein betrachtendes Wesen im Hier und im Jetzt benötigt. Nach traditionellem chinesischem Verständnis ist die Kunst ein Ort, an dem sich potentiell jeder Mensch einfinden kann – ein tröstlicher Gedanke, der zu heilen vermag. Healing art.

1. Beide Zitate (Hegel und Nancy) in: Jean-Luc Nancy, Die Lust an der Zeichnung, Wien: Passagen Verlag, 2013 (2. Auflage), S. 30.

2. Brenda Richardson, Brice Marden – Cold Mountain: “The Way to Cold Mountain”, Houston, Texas: Houston Fine Art Press, 1992, S. 73, 74. Im englischen Original lautet die Bemerkung folgendermaßen: “I find it fascinating that these paintings offer open situations that are not infinitely open but are rather more open than a lot of other situations”.

3. Der Überlieferung nach soll Zhuangzi, dem die Autorschaft des Buch Zhuangzi zugeschrieben wird, im 4. Jahrhundert v.Chr. gelebt haben. Was wir über das Leben Zhuangzis wissen, ist weitgehend Legende. Die ältesten Teile des Buchs sind auf die Mitte des 4. Jahrhunderts v.Chr. zu datieren. Die jüngeren Teile stammen teilweise erst aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. Die heutige Version des Textes geht auf den Philosophen Guo Xiang (253-312 n.Chr.) zurück. Sie ist also einige Hundert Jahre jünger als der von Meister Zhuang verfasste Urtext. Victor Kalinke, Gründer und Chef des Leipziger Literaturverlags, hat das Buch Zhuangzi in ein zeitgemäßes Deutsch gebracht und kommentiert. In der 2017 von ihm herausgegebenen Ausgabe finden wir Abschnitt für Abschnitt das chinesische Original, die Pinyin-Umschrift, eine Interlinear-Fassung und schließlich Kalinkes Übersetzung selbst. Die “Inneren Kapitel” werden traditionell als inhaltliche Einheit und als der Hauptteil des Buchs angesehen. In deutscher Übersetzung finden sie sich in einer Übersetzung von Oliver Aumann, die 2018 im Verlag Karl Alber erschien. Der Klassiker unter den Zhuangzi-Übersetzungen ist Das wahre Buch vom südlichen Blütenland (nicht vollständige Übersetzung. Übersetzer: Richard Wilhelm, Köln: Eugen Diederichs, 1969).

4. Buch XXVII, “Gleichnisreden”, Kapitel 1, “Dschuang Dsi´s Lehrweise”. Es zählt zu den “Vermischten Schriften” (zapian), für die Zhuang Zi nicht als Autor gilt. In der Übersetzung von Richard Wilhelm ist nur von einem “Becher” die Rede, ich bevorzuge den Begriff “Kippbecher”. Dazu siehe auch: Heinrich Geiger, Den Duft hören. Natur, Naturbegriff und Umweltverhalten in China, Berlin: Matthes & Seitz, 2019, S. 69-71.

5. Der Maler Chen Ruo Bing, Hans Günther Golinski (Hrsg.) im Auftrag der Stadt Bochum, Bochum: Kunstmuseum Bochum, 2016, S. 8.

6. Das Zitat findet sich in: Adrienne Braun, “Kunst im Krankenhaus. Corona-Patienten können abtauchen”, www.stuttgarter-zeitung.de, 25.01.2021

7. Der Maler Chen Ruo Bing, Hans Günther Golinski (Hrsg.) im Auftrag der Stadt Bochum, Bochum: Kunstmuseum Bochum, 2016, S. 14.

8. Ebenda, S. 20.

9. Heinrich Geiger, Die große Geradheit gleicht der Krümmung. Chinesische Ästhetik auf ihrem Weg in die Moderne, Freiburg: Verlag Karl Alber, 2005, S. 133-144.

10. Raimer Jochims, grün und violett, tagebuch 24.9.75 – 29.10.77, innsbruck: allerheiligenpresse, 1981, ohne Seitenangabe, weil keine Durchnummerierung. Raimer oder Reimer? Um unnötige Verwirrung zu vermeiden, folgende Angabe: Jochims änderte seinen Vornamen aus Identitätsgründen von Reimer (siehe nachfolgende Literaturangabe) zu Raimer.

11. Reimer Jochims, Visuelle Identität. Konzeptionelle Malerei von Piero della Francesca bis zur Gegenwart, mit einem Nachwort von Gottfried Boehm, Frankfurt am Main: Insel Verlag, 1975.

12. Heinrich Geiger, Die große Geradheit gleicht der Krümmung. Chinesische Ästhetik auf ihrem Weg in die Moderne, Freiburg: Verlag Karl Alber, 2005, S. 261.

13. Patrick Le Nouene, “Zao Wou-Ki: Ein Chinese in Paris”, in: Welten im Dialog. Von Gauguin zur globalen Gegenwart, Marc Scheps, Yilmaz Dziewior, Barabara M. Thiemann (Hrsg.), Köln: Museum Ludwig Köln, Autoren, Künstler und DuMont Buchverlag, 1999, S. 280-281. Zitat: S. 281.

14. Übersetzung vom Autor aus dem Chinesischen. Das Zitat entstammt einem Interview, das am 16.11.2016 Xie Jinyu mit Chen Ruo Bing führte. Der Text des Interview trägt den Titel “Ein Ende mit dem Denken in Unterscheidungen – Aufzeichnungen eines Interviews mit Chen Ruo Bing” (fangxia fenbie xin – Chen Ruo Bing caifang lu)

15. Dieser Klassiker daoistischer Literatur, der auf Mitte bis Ende des 4. Jahrhunderts v.Chr. zu datieren ist, gilt als der meistübersetzte Text nach der Bibel. Eine der jüngsten Übersetzungen ins Deutsche stammt von Jan Philipp Reemtsma, der schon als Jugendlicher angetan war von dessen rätselhaften, oft unverständlichen Weisheiten. Wie im Fall des Buchs Zhuangzi wurde auch im Fall des Buchs Laozi die im Deutschen gebräuchlichste Übersetzung von Richard Wilhelm erstellt (Laotse, Tao te king. Das Buch des Alten vom Sinn und Leben, Düsseldorf/ Köln: Eugen Diedrichs, 1957).

16. Siehe “Das höchste Kriterium der Kunst”, in: Heinrich Geiger, Die große Geradheit gleicht der Krümmung. Chinesische Ästhetik auf ihrem Weg in die Moderne, Freiburg: Verlag Karl Alber, 2005, S. 93-104.

17. Dieser Satz findet sich im Vorspann des Katalogs Der Maler Chen Ruo Bing, Hans Günther Golinski (Hrsg.) im Auftrag der Stadt Bochum, Bochum: Kunstmuseum Bochum, 2016 und auf einer vom Künstler selbst gestalteten Postkarte.