CHEN RUO BING

Das Licht und die Leere

Jeroen Chabot

Chen Ruo Bings Arbeit hat eine enorme Wirkung. Egal ob im Kleinformat oder auf großer Leinwand, wir erkennen sofort die idiosynkratrisch-poetische Bildsprache, das Können und den originellen Beitrag zur universellen Entwicklung der Malerei. Um seine Werke interpretieren zu können und einem größeren Publikum vorzustellen, wird hier eine kurze Einführung in Chen Ruo Bings Werdegang, seine Bildentwicklung und die Inhalte seiner Arbeit gegeben.

Zunächst wird seine Entwicklung als Künstler betrachtet, gefolgt von einer Gegenüberstellung seiner Arbeiten zur Tradition amerikanischer Farbfeldmaler, europäischen Monochrom-Malern und dem Verständnis wesentlicher Elementen Chinas reicher visueller Kultur, die noch immer Chens Arbeit beeinflussen. Dies trägt zu einer möglichen Interpretation der Bedeutung von Chen Ruo Bings Werken bei, die am Ende dieses Beitrages gegeben wird.

Eines sollte allerdings klar sein: Die Arbeiten Chen Ruo Bings sprechen für sich selbst und zu Jedem auf eine unterschiedliche und persönliche Weise.

 

Konstante Entwicklung

 

Chen Ruo Bing kam in den 90ern nach Düsseldorf, um an der Akademie bei Gotthard Graubner und anderen zu studieren. Ausgebildet in Hangzhou, als talentierter Maler mit umfangreichen Erfahrungen in Tuschemalerei und Kalligraphie, suchte er nach neuen Herausforderungen in Europa, um seine Fähigkeiten weiter zu entwickeln. Die Geschichte klingt an diesem Punkt vielleicht vertraut. Während am Anfang die schwarz-weißen Arbeiten aus der Han-Dynastie eine wichtige Inspirationsquelle waren, begann Chen während seines Aufenthaltes in Düsseldorf immer öfter zur Farbe zu greifen. So begann er sich zunehmend in Richtung abstrakter Kunst zu entwickeln. Den langsamen Übergang zur abstrakten Malerei beschrieb Chen 2007 mit „Verschiedene Künstler finden verschiedene Wege, um Verwandlungen von Substanz und Geist zu erreichen. Das Bearbeiten des Materials, der Farbe selbst, transzendiert Wesentlichkeit um Geistlichkeit zu werden. Ich schaffe dies, indem ich etwas Reales etabliere und dehne bis es etwas Abstraktes wird. Von dieser Perspektive aus gesehen ist abstrakte Kunst eigentlich realistische Kunst.“ 1 Chens Worte erinnern an Künstler wie Piet Mondriaan, der Abstraktion auf eine ähnliche Weise erreichte.

In seiner Arbeit der frühen 2000er gab es drei Spuren von Entwicklung in seinen Werken:
– Kleine Formen, sich wiederholend über die Fläche, einen Platz in einer dominanten Farbfläche einnehmend
– Gitterstrukturen verblendet in einer Farbfläche. Dieses ist ein wiederkehrendes Motiv in seiner Arbeit, bei dem sich Form in Farbe auflöst
– Eine dominante, fast monumentale Form auf der Farbfläche stehend

In seinen aktuellen Arbeiten, beginnend in 2012 bis heute, sind alle drei zu finden. Die sich auflösende Form, die Konzentration auf ein einzelnes Muster im Bild oder eine Form innerhalb des Rahmens des Bildes und die Leere der Leinwand mit der endlosen Dimension aus Farbe, bei der die Form Zugang zu einer anderen Ebene ermöglicht.
Doch ab 2012 ist auch sichtbar, dass Chen Ruo Bing immer öfter konvexe, steinartige oder oft abgerundete quadratische Formen in heller, bezeichnender Farbe wählt; sozusagen die Wächter einer anderen Sphäre, erschaffen durch Farbe.

Diese Form kann entweder in Bezug auf den Raum, in dem sie sich befindet, klar umrissen sein und sich abzeichnen oder sich in dem Meer aus Licht und Farbe, das sie umgibt, auflösen.

Der Ursprung der Form ist immer dreidimensional. Es ist vielleicht der Einfluss von Graubner, der hier gefunden werden kann. In der wolkigen Oberfläche der Farbe, wo Nah und Fern schwer zu lesen sind. Wo der Körper der Form in Leere und Farbe verschwindet.
Ob nun im Großformat oder im intimen Kleinformat gemalt, der Effekt ist gewaltig. Es werden Assoziationen mit Turners Gemälden von Booten im Nebel und das romantische Gefühl des Außergewöhnlichen, in dem der Mensch nichtig ist im Vergleich zur Erhabenheit der Natur, hervorgerufen.

In seinen Arbeiten finden sich jedoch auch klare Formen. Manchmal suchen sie die Kanten des Bildes und drängen sie fast weiter nach außen; die Form vergrößert den Rahmen und so die Fläche des Bildes selbst und manchmal rahmt die Form eine neue Fläche innerhalb des Bildes. Hier ist die Idee des abstrakten Wächters, der uns einen flüchtigen Blick in einen neuen, endlosen Raum gibt, am stärksten.
Die Verwendung von Farbe, die Intensität ebendieser, die Konzentration auf das Gleichgewicht zwischen Farbe, Form, Größe und Raum, rufen sofort Assoziationen mit der reichen Tradition von westlichen Künstlern hervor, die ihren Fokus auf Farbe gelegt haben. Da sind die europäischen Gründer der Moderne wie Piet Mondriaan, Josef Albers, Kazimir Malevich und Nachkriegskünstler wie Daniel Buren, Niele Toroni, für die serielle Wiederholung von einfachen Formen aus heller Farbe beispielhaft ist sowie den zuvor erwähnten Graubner mit seiner eher spirituellen Verwendung von Farbe und „des Körpers“ des Bildes;  Aber auch amerikanische Farbfeldkünstler wie Mark Rothko, Barnett Newman und Ad Reinhard oder Brice Marden: Beide Traditionen suchten gegenseitig unvergleichbaren Inhalt in ihren Arbeiten. Das Poetische, sehr Spirituelle der amerikanischen Künstler, das Geistliche von Turner, aber auch die Suche nach einem neuen visuellen Vokabular, das an die Moderne der europäischen Künstler anknüpft, kommt in den Werken von Chen Ruo Bing zusammen.

Chinesische kulturelle Identität


Um zu erfassen was in Chens Arbeiten thematisiert wird und um ihn wirklich würdigen zu können, ist ein gewisses Verständnis der reichhaltigen chinesischen Tradition wichtig – sofern eine solch grobe Verallgemeinerung überhaupt möglich ist. Unwillkürlich kehren wir zu dem Gedankengut zurück, das dem Philosophen Lao Zi zugeschrieben wird, der vermutlich im 6. Jahrhundert vor Christus seinen Wirkungszeitraum hatte. Er war einer der Gründer des Taoismus mit seinem Dao De Jing. Darin beschreibt er das Wesen der Dinge in einer Reihe einfacher Einsichten. Veränderung ist der Existenz innewohnend. Gut und Böse sind untrennbar. Der „Weise“ wird so niemals nach irgendetwas streben sondern das Leben mit allem was es mit sich bringt akzeptieren. Im Wasser, das den Raum füllt, ohne Gut und Böse zu unterscheiden, erkennen wir Harmonie. Die Harmonie zwischen dem Unendlichen (Himmel, Universum) und der Erde (Natur, Gesellschaft) und dem Menschen selbst ist es, der wir uns öffnen müssen und das ist es, was „der Weise“ erreicht. In diesen Erkenntnissen können wir viel der typisch westlichen Gedanken erkennen. Die Unerreichbarkeit des Ideals (Platon), die Präsenz der Perfektion im Ursprung der irdischen Erscheinungsform (Aristoteles), die dialektische Symbiose sich gegenüberstehender Größen (Hegel). Doch das Ausmaß, in dem Lao Zis Denken in der Wertschätzung der Natur, des Regens, des Windes, des Frühlings und des Herbstes verankert ist, offenbart eine Poesie, die dem Westen fehlt. Ein gutes Beispiel ist vielleicht das Schriftzeichen für „Leben“, welches gleichzeitig auch ein Zeichen für „den Geschmack von Wasser auf der Zunge“ darstellt. Ein Reichtum im Denken und der Assoziationen ist es, was wir mitnehmen sollten, wenn wir uns Chens Arbeiten ansehen.

Farben, aus einer chinesischen Perspektive gesehen, beziehen sich manchmal auf andere Deutungen oder Gefühle, als aus der westlichen Perspektive gesehen. In Chens Werken sehen wir eine häufige Verwendung von Gelb und Orange. Oft ist das Rot, mit dem er sein Gelb verstärkt, in kleinen Farbtupfern noch sichtbar. Gelb kann mit Erde in Verbindung gebracht werden, aber auch mit Zufriedenheit oder Bewegung und Wandlung. Rot bezieht sich auf Wohlstand und Freude. Das Violett und Lavendel das Chen nutzt, könnte sich auf Unsterblichkeit oder Liebe und Romantik beziehen. Grün, eine Farbe die Chen oft als Grundlage verwendet, wird mit Reinheit und Makellosigkeit assoziiert. Diese Fülle von  Sinneswahrnehmungen und Verbindungen umgibt uns, wenn wir vor einem der Bilder von Chen stehen. Ungreifbar und immateriell tragen sie zum kaleidoskopischen Verständnis und der Erfahrung von Raum, unserer Existenz und Zeit, bei.

Wir müssen uns also wortwörtlich die Zeit nehmen, dies zu erfahren.

 

Bedeutsamkeit

 

Chen geht es nicht um die Proklamation einer einzigen Wahrheit oder Erkenntnis. Er möchte, dass wir die Welt in all ihrer Schönheit und all ihrer Furchtsamkeit erleben, aber auf einer abstrakten, über das Anekdotische erhobenen Ebene. Dann erkennen wir die Entwicklungen in seiner Arbeit als konsistente, sehr ernsthafte Suche nach einem noch reicheren Ausdruck von universellen Tatsachen. Wir können dies in den Titeln seiner Ausstellungen erkennen, beispielsweise „Into The Light“2, „What We Cannot Speak About“3 und „The Silence Of Light“4.

In einem Interview äußert sich Chen sehr explizit über seine Ansichten in Bezug auf Abstraktion und Form: „Die Bilder in den Malereien sind sicherlich ein Sinnbild für die geistige und materielle Welt. Geometrische Zeichnungen haben, neben einer „Form“ auch einen „Charakter“. „Formen“ mit „Charakter“ können atmen, haben die Kraft des Lebens. Sie sind sanfte und ruhige Symbole voll positiver Energie. Auf der flachen Oberfläche der Leinwand stellen die „Formen“ mit „Charakter“ die Abstraktion der materiellen Welt dar. Gleichzeitig ist es eine Konkretisierung; emblematisch für die spirituelle Welt.“

Darüber hinaus ist seine Suche nach einem vollkommenen Bild auch ein wesentlicher Aspekt seiner Entwicklung. In seinem Atelier befindet sich, als Erinnerung und als Inspirationsquelle, noch immer eine Tuschezeichnung, inspiriert von den Gemälden der Han Dynasty.

Chen Ruo Bing malt in einem kontrollierten, konzentrierten, fast meditativen Zustand. Er nutzt teure Materialien, aber in einer zurückhaltenden Art. Seine Arbeit ist reich an Geist, aber arm an Material, welches oft sparsam auf Leinwände aufgetragen wurde, die über dünne Keilrahmenleisten gespannt wurden. Eine Farbfläche wird oft direkt auf den unbehandelten Untergrund aufgetragen, wonach er dann graduell sein Werk mit großen und kleinen Pinseln aufbaut. Die Handschrift des Künstlers bleibt unauffällig aber unverkennbar präsent. Die großen Formen sind eindeutig handgemalt und können fast wunderlich wirken. Manchmal sind die Farbspritzer auf der Leinwand immer noch sichtbar. Das Machen selbst, der Moment des Erschaffens und Perfektionierens ist ein permanent sichtbarer Teil des Bildes, egal wie verfeinert, einfach und effektiv ein Bild auch scheinen mag. Ein gutes Beispiel ist „Untitled (1230)“, welches er zwischen 2012 und 2020 gemalt hatte. Es ist ein großes Bild mit den Maßen 180cm x 180xm. Die Darstellung ist einfach, aber der Effekt, die Wirkung auf den Zuschauer ist groß. Auch wenn er daran acht Jahre lang gearbeitet hat, sieht man nichts von diesem Aufwand im Bild, welches klar, schön in seiner Einfachheit und Selbstverständlichkeit ist. Es wirft die Frage auf, wann ein Bild eigentlich fertig ist. Chen sagt dazu, dass es das Bild selbst ist, das entscheidet, wann es den Künstler verlässt und seinen eigenen Weg geht, wenn es fertig ist. Dies verdeutlicht eine Distanz, die zwischen der Person des Künstlers und seiner Beherrschung seines Könnens und den höheren Ebenen von Existenz, die das Kunstwerk selbst nach Verlassen des Ateliers erreicht. Es hat für uns eine Brücke zwischen der Unendlichkeit und unserer zeitgebundenen, irdischen Existenz gebaut.

Übersetzt von Annika Hingst
1 „The Process Of Responding“, Beijing 2007, p. 44
2 Galerie Fesel, Düsseldorf/Taguchi Fine Art, Tokyo, 2005.
3 Galerie Albrecht, Berlin, 2020
4 Wellside Gallery, Seoel, 2008
5 “Looking for Now”, Gingo Space, Beijjing, 2015, p.142