CHEN RUO BING

Mehrfach einfach

Manfred Schneckenburger

Meine Damen und Herren, die Verlockung liegt nahe, einen jungen Ma­ler, der sein Studium in China begonnen und in Deutschland abge­schlossen hat, in einer doppelten Perspektive zu sehen. Auf einem Weg, der zwischen 1988 und 1998 von der China Academy of Art im südchinesischen Hangzhou zu Gotthard Graubner nach Düsseldorf führt. Die Biografie bekräftigt das doppelte Augenmerk.

Warum bleibt es dennoch unbefriedigend, Chen Ruo Bing in zwei Traditionen aufzuspalten? Seine Bilder nach Zuströmen abzusuchen, ob­gleich sie längst nicht mehr von Ausgangspositionen des Lernens her zu erfassen sind, sondern ihre EIGENE Mitte nicht zwischen, sondern aus zwei Welten gefunden haben. Zwei Welten, die unlöslich zusammenfließen und Eins werden.

Also beharre ich von Anfang an auf der künstlerischen Einheit die­ser Bilder, bevor ich – nun doch – ihrem doppelten Ursprung nachgehe. Denn das Auge sieht Synthesen, wo die Sprache, diesseits der Poesie, von analytischen Mustern abhängt – und halte auseinander, was einem einzigen Atemzug gleicht.

Vier und sechs schmale Hochformate. Sieben kleinere Quadrate, ein­seitig, senkrecht daneben gehängt, Hochformate wie Quadrate jeweils in gleichen Abständen gereiht. Sie zeigen jeweils einen vertikalen Balken vor monochromem Fond. Der Pinselduktus, das zentrale vitale Prin­zip der ostasiatischen Malerei, ist im Bildgrund entschieden zurückge­drängt und zu großer Ruhe gebracht. Ohne Stocken, Stauen, Flecken, in kontinuierlicher Bewegung aufgetragen. Nur die roten oder grünen Balken sind von einem heimlichen Flamboyant belebt, das in Lasuren Orange über Rot, Grün über Grau leicht, sehr leicht zu vibrieren scheint – eine malerische Differenzierung aus Verdich­tung, Verschattung, Aufhellung. Das Auge wird, kaum merklich, in  Bewegung versetzt. Aber auch hier kein anschwellender Pinseldruck, keine ausfließende Liquidität und erst recht keine Spur von Geschwindigkeit und Malprozess, wie er sich spätestens seit dem abstrakten Expressionismus immer wieder mit fernöstlicher Schreib­kunst verknüpft.

Und doch bleibt, bei allem Verzicht auf Lesbarkeit (auch für chi­nesische Augen) die Assoziation von Schriftzeichen. Als westlicher Betrachter erinnere ich mich von ferne, dass die chinesische Sprache nur einsilbige Wörter kennt. Eine Silbe/ein Wort. Ich erfahre, dass alle Wörter im Satz unverbunden nebeneinander stehen, ohne Deklination und Konjugation, ohne Bindewörter. Eine Syntax, die isoliert und reiht. Die Frage liegt nahe, ob dieser paratakti­sche Rhythmus der chinesischen Sprache in den Bilderfolgen lebt: ein Balken, eine Silbe, ein Wort. Wiederholt der Pinselzug von oben nach unten nicht auch die Vertikalität des Zeilenstandes, mit dem wiederum das steile Schmalformat korrespondiert? Folgen diese abstrakten Wortembleme nicht im Takt von Gongschlägen aufeinander, wie sie in gerade der chinesischen Kultur oft zu hören sind?

Aber es ist nicht nur die Nähe zur Schreibkunst, die Traditionel­les wachruft. Ein chinesischer Kritiker betitelt seinen Aufsatz über Chen Ruo Bing “Tao of Minimalism” und gründet seine Deutung auf diesen Bezug, der wichtigen philosophischen Fundierung der chinesischen Kulturwelten. Obgleich der Künstler sich (wie jeder gute Künstler) gegen die philosophische Vereinnahmung wehrt, schlage ich vorsichtshalber noch einmal nach, welche Aspekte des Taoismus, nach gut zweieinhalb Jahrtausenden, im Werk eines zeitgenössischen Ma­lers weiter wirken könnten. Ich stoße dabei auf das Zitat eines taoistischen Schreibmeisters aus dem 6. Jahrhundert und rekapituliere, dass Schreiben in China Jahrhunderte lang engstens mit der Malerei verbunden, ihr an Ansehen sogar überlegen war. Von der Kalligrafie zur Malerei ist ein kurzer Schritt. Der Meister rät: “Wenn man zu schreiben beabsichtigt, muss man die Sinnestätigkeit des Sehens und Hörens zurück halten. Man stelle seine Gedanken ab und konzentriere seinen Geist. Wenn man dann sein Herz gerade macht, dann stimmt man überein mit den wunderbaren Gegebenheiten der Malerei. Dann schaffen wir die höchste Leere, wahren wir feste Stille”. Dann erst entstehen Werke von der größten Einfachheit.

Ich höre fast die Stimme des alten Schreibmeisters, wenn Chen im Gespräch berichtet, dass er beim Malen alle äußeren Eindrücke wegschließt, die Musik abschaltet und sich ganz auf die Harmonie mit sich selbst konzentriert. Leere, Stille, Einfachheit sind Schlüsselbegriffe taoistischen Denkens: der andere, romantisch schweifende Grundzug der chinesischen Kultur neben dem sozialpragmatischen Konservativismus des Konfuzius. Chens sichtbarer Verzicht auf alles Beiläufige, Zufällige, Überflüssige, Äußerliche, die Reduktion und abstrakte “Einfachheit” seiner Bilder geben den taoistischen Ideen deutlich Gestalt.

Im Tao-te Ching finde ich noch ein anderes Zitat: “Bei der Entstehung der Welt brachte das Tao Eines hervor. Das Eine Zwei. Die Zwei Drei. Und aus Drei gingen alle Dinge hervor.“ Das Tao aber ist der “Urgrund der Welt, das Gesetz der Gesetze, das Maß aller Maße“, wie ein deutscher Philosophieprofessor sich abmüht. Wäre es zu weit hergeholt, auf ein erstes, zweites, drittes – und viertes Bild hinzuweisen, in denen, mit der Entstehung des Vierten, alles vom Urgrund bis zur Fülle der Erscheinungen enthalten ist? Ich weiß, dass ich einer absichtslosen Bilderfolge damit viel auferlege, aber auch einen Hintergrund aufhelle, der bis in die Tiefen der chinesischen Philosophie zurückreicht.

Die Biografie detailliert auch das Schritt für Schritt. In den frühen 90er Jahren lehnten die Bilder Chens sich sichtbar an ihre Wurzeln in der Kalligrafie (Abb. 1). Danach passierte der Maler die Steinabreibungen der Han-Zeit mit ihren vorbildlichen Schreibmeistern. In einer kurzen Phase halbabstrakter Zeichen dringen Erinnerungen an die klassischen chinesischen Motive, Landschaft und Figur in sein Werk. Chen verwendet vor allem Tusche, gelegentlich auch Kohlenstift. Kennzeichnend ist die Beschränkung auf Schwarzweiß. Die Farbe steht in der chinesischen Tradition unter Vorbehalt oder stößt ganz auf Ablehnung. Sie gilt als profan, dekorativ und haftet am bunten Schein der Welt.

Dieser, in vielem traditionelle chinesische Maler Chen Ruo Bing kommt 1992 nach Deutschland. Seine Heimat liegt nahe beim wolkenverhangenen, in Dunst getauchten Westlake (Xi Hu), die Landschaft, zeitweise fast ohne Farbigkeit. Ein glücklicher Zufall will es, dass er an der Düsseldorfer Akademie rasch auf Gotthard Graubner trifft, einen der wenigen großen Koloristen in der deutschen Kunst, einen Maler mit dem absoluten chromatischen Gehör. Für Chen, der aus einer Kultur stammt, die der Farbe misstraut, muss es eine Offenbarung gewesen sein. Nicht, dass er auf einen Schlag zum Prosyleten wird! Er beharrt noch lange auf Schwarzweiß, setzt zu­erst verhangene Farben ein, erarbeitet sich die Malerei in Lasuren, entdeckt die Raumwerte kalter und warmer Farben, tastet sich vor­sichtig durch die wechselseitige Steigerung von Komplementäreffek­ten, erkennt im Gefolge des Lehrers den Zusammenhang zwischen Far­be und Licht, (der zunehmend wichtiger wird und auch dieser Ausstellung ihren Titel gibt). Er richtet gegen die Tradition schmaler Hochrechtecke eine förmliche Bastion quadratischer Formate auf. Er studiert Mondrians konstruktivistisches Equilibrium, erschließt sich die Balanceakte der relationalen Komposition und begegnet den offenen, weichen Raumkissen seines Düsseldorfer Lehrers mit einer Malerei rechtwinkliger Rhythmen und Reime (Abb. 2). Er wägt Abstän­de und Zwischenräume aus – auch in der Fuhrwerkswaage fällt das asymmetrisch gesetzte Umfeld der Balken ins Auge. Zusammen mit dem grauen oder gelben Fond bildet sich ein angespanntes Proportionsgefüge, ein “Bildleib” (Theodor Hetzer), der die Wurzeln des neuzeitlichen Bildes westlicher Prägung berührt.

Am beharrlichsten arbeitet Chen jedoch an der Farbe. Er nutzt ihre räumliche und emotionale Energie, gibt ihr Würde, Feierlichkeit, Monumentalität, manchmal Anmut, ja, sogar Eleganz. Er macht sie lichthaltig, leuchtkräftig und flexibel. Er überwindet die Schwere des Pinselzugs, indem er Balken – die Bilder in der Fuhrwerkswaage – ab­fallen und aufsteigen lässt. Er kehrt damit auf neue Weise zu einem wichtigen Anspruch der chinesischen Kalligrafie zurück. Vor etwa zwei Jahren gewann er die Selbstsicherheit, mit den Erinnerungen an die Schreibkunst steile Hochformate neben die Quadrate zu stellen. An den Wänden der Fuhrwerkswaage können Sie beides sehen: den Durchbruch zur schieren Farbe und die Rückbesinnung auf die eigene Tradition. Vielleicht wird jetzt auch verständlich, warum ich Schwierigkeiten hatte, zuerst von einem chinesischen Anteil und dann von der westlichen farbi­gen Autonomie zu sprechen. Beide Zuströme sind ineinander aufge­gangen, ohne sich zu verlieren.