CHEN RUO BING

Ruhe wirkt Ordnung

Zur Malerei von Chen Ruo Bing

Ulrich Krempel

Große Ruhe eignet diesen Bildern, in denen wir einzelne, ruhig ruhende  Formen finden, die sich in oder vor Farbräumen erstrecken. Körper sind dies,  in der Malerei durch helle Höhungen an den Konturlinien oder auf den Volumina als solche akzentuiert, die zugleich aber jede präzisere Beschreibung ihrer Körperlichkeit verweigern. Sie finden sich, wie schwebend, in Bildräumen, die sich um die Dinge herum erstrecken, und in lasierenden Farbklängen formuliert, hinter deren Oberflächen der Betrachter andere Farben durchschimmern sieht. Denn die Oberflächen der Räume und Körper bergen in sich eine Mehrzahl von Farbschichten, die uns gelegentlich noch von den Farbspritzern einer weiter unten liegenden Schicht auf benachbarten Farben belegt werden. Auch an den Bildrändern können wir die Schichtungen der Farbaufträge ablesen, können wie Archäologen des Sehens in die Geschichte des Machens dieser Bilder zurück reisen. Hinter und unter der Perfektion der Oberflächen entdeckt das insistierende Sehen so weitere Dimensionen farbiger Klänge.

Chens Malerei zwingt uns zu einer Dialektik des Sehens. Denn nichts ist so eindeutig in seinen Bildräumen, dass wir nicht im weiteren Sehen wieder Anderes sehen könnten. Neues, das uns die  Sicherheit des zuerst Gesehenen wieder raubt. Sind es die Gegenstände, die Volumina, oder der Raum, die Leere, die in diesen Arbeiten das Bilderlebnis dominieren und definieren? Chens Bilder geben darauf keine eindeutigen Antworten, die einzelnen Elemente der Gemälde stehen bei ihm im kontinuierlichen Dialog.

 „Ton knetend, formt man Gefäße. Doch erst ihr Hohlraum, das Nichts, ermöglicht die Füllung. / Aus Mauern, durchbrochen von Türen und Fenstern, erbaut man ein Haus. Doch erst sein Leerraum, das Nichts, gibt ihm den Wert. / Das Sichtbare, das Seiende, gibt dem Werk die Form. / Das Unsichtbare, das Nichts, gibt ihm Wesen und Sinn.“(Lso Tse,Tao Te King, Kapitel 11). So lässt uns auch Chens Malerei, wenn wir ihr Zeit geben in unserer Betrachtung, die Ambivalenzen der Dinge im Raum, des Sichtbaren im nicht Sichtbaren erleben, ohne uns die eindeutige Sicherheit eines bestimmten Sehens zu erlauben.

Chens Malerei ist voller Licht; diese Helligkeit wohnt in den Farben, ist nicht als Beleuchtungslicht gerichtet, wirft keine Schatten, ist ubiquitär. Dieses Licht erst macht auch das Dunkel erfahrbar, das der Helligkeit gegenüber steht, und hier erscheint  das Werk kalkuliert reduziert zu einer die Erfahrung erst ermöglichenden Ruhe und Kontemplation. „Zu grelles Licht gefährdet das Sehen“, schreibt Lao Tse, und  „übergroße Erregung stumpft das Gefühl.“(Tao Te King, Kapitel 12). In Chens Malerei finden wir Licht, Form und Dinge, aber sie alle sind auf ein Maß des Wesentlichen hin reduziert, in dem alles erfahrbar wird und nichts einfach Dingliches sich vor solche Vielfalt des Wahrnehmens schiebt.

Diese Malerei verzichtet auf laute Effekte, auf Spuren gestischen Hantierens des Künstlers. Die sanfte Glätte der Oberflächen spricht von dem Wunsch, die Dinghaftigkeit der Szene in einem harmonischen Ganzen aufzuheben, Form und Leere miteinander zu verweben. Weitestgehende Reduzierung der Körper und Formen sind dabei ebenso erlebbar wie die Beschränkungen der Farbigkeit auf – in der Regel – zwei Farben aus erster oder zweiter Ordnung, die sich im Verlauf des Malaktes dann verändern können, wenn sie in der folgenden distanzierenden Betrachtung dem Erleben des Malers nicht standhalten. Das Werk, das schließlich das Atelier verlässt, trägt so unter seiner letzten realisierten Form immer auch die Geschichte seines eigenen Werdens. Die Reinheit der Form im Bild, ihre reduziertest denkbare Realisierung, birgt so in sich auch den Prozess des allmählichen, kontemplativen Erlangens dieser Reinheit und Klarheit.

LAO-TSE, TAO-TE-KING.
Hrsg Günther Debon, Stuttgart 1961